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Apropos Realitätstunnel

Es war ein Tag im November und der Himmel war grau. Ich war seit 5:30 Uhr auf den Beinen, hatte neun Stunden Arbeit und 180 Kilometer auf der Autobahn hinter mir. Ich war sterbensmüde, so erschöpft, dass meine Augen brannten und meine Schläfen pochten. Außer mir saß niemand in dem quadratischen Wartezimmer.

Meine Jacke hatte ich anbehalten, die Tasche stand schwer auf meinen Knien. Regen wurde in dicken Tropfen rhythmisch vor das Fenster in meinem Rücken geweht. Ich starrte auf die weiße Türe mir gegenüber, brannte mit meinem Blick ein Loch in sie hinein – meine Therapeutin ließ sich nicht blicken. Die Augen auf die Uhr richtend, wippte ich nervös mit meinen Füßen – auf und ab, ab und auf…Nach einer Weile betrat ein Mann das Wartezimmer, sein Blick streifte mich kurz, bevor er seine Jacke auszog,  mir wurde klar, wie heiß es war. Er entledigte sich auch seines Rucksacks, ich spürte den Druck der schweren Tasche auf meinen Knien. Als er sich setzte, nahm er den ganzen Stuhl ein, die Beine sperrangelweit auseinander. Fasziniert betrachtete ich ihn. Wie er da saß! Es war geradezu obszön.

Der Körper braucht Raum

Schnell starrte ich auf meinen Schuh, als er mich ansah. Ich wollte keinen Blickkontakt mit ihm, ja ich wollte nicht einmal dieselbe Luft mit diesem oder einem anderen Menschen atmen. Ich wollte nur, dass meine Therapeutin endlich auftauchte und wir diese Sitzung hinter uns bringen konnten. Der Gedanke war hirnrissig, das war mir bewusst, dennoch fühlte ich mich von diesem Mann und seiner Körperlichkeit gestört. Wie konnte es sein, dass ein Mensch so viel Platz für sich beanspruchte? Ob er sich darüber auch Gedanken machte? Oder war es in seiner Welt selbstverständlich Raum einzunehmen? Platz zu beanspruchen? Breit zu sein? Jemand, der nicht ignoriert, nicht übersehen werden konnte?

„Das könnte ich sein“, dachte ich. Vorsichtig stellte ich die Tasche vor mir auf den Boden. Ich zog meine Jacke aus und legte sie auf den Stuhl neben mich. Gut. Dann rutschte ich mit dem Gesäß nach hinten, mein Rücken berührte die Lehne. „Ich war mal genau wie er. Ich war einfach da, hatte Raum. Ich habe so gerne gelesen, immer und überall.“ Doch in dieser Tasche war kein einziges Buch, kein einziges Buch mehr, seit gut zwei Jahren. Vorsichtig streckte ich meine Beine aus. Es fühlte sich falsch an, dennoch tat ich es. Ein Schrei stieg in mir auf, ich schluckte und er manifestierte sich als harter Klos in meiner Kehle. „Was ist aus dir geworden, wenn du es nicht aushalten kannst, deine Beine auszustrecken und Platz für dich zu beanspruchen? Du hast dich früher so viel und gerne bewegt. Du hast gelacht und warst verspielt. Soll das etwa dein Leben sein?“

Verschmelzung nicht möglich

Was war mir also zugestoßen, wie war ich ein Mensch geworden, der so gerne unbeachtet blieb? Am liebsten wäre ich mit der Tapete verschmolzen, in den Möbeln versunken, hätte gerne eine Einheit mit dem Teppich gebildet. Mir wurde bewusst, dass ich den ganzen Tag kein Wort mit einem anderen Menschen gewechselt, nur vor dem PC gehockt hatte. „Das war´s!“, dachte ich, „ich kann das nicht mehr, ich mache so nicht weiter.“ Doch war ich nicht genau aus diesem Grund hier? Wartete ich nicht genau aus diesem Grund auf meine Therapeutin, die nun 25 Minuten zu spät dran war und keinen Mucks von sich gab, wann und ob sie überhaupt noch kam? „Warum warte ich hier? Ich kann auch einfach nach Hause fahren, keiner zwingt mich zu warten, keiner zwingt mich diesen Job zu machen, keiner zwingt mich – keiner.“

Schluss machen

Und doch fühlte ich mich gezwungen, ein Leben zu führen, dass mich offensichtlich krank machte. Und ich fürchtete mich davor so zu leben. Ich hatte aber auch Angst damit Schluss zu machen. Und was bedeutete „Schluss machen“ in diesem Zusammenhang? Etwa SCHLUSS MACHEN? Nein! Aber aufhören, das könnte ich doch, nicht wahr? Ich könnte jetzt sofort aufhören, auf meine verspätete Therapeutin zu warten und stattdessen etwas anderes machen, etwas das ich jetzt wirklich will und brauche! Doch was ist das, was ich will und was brauche ich? Damals wusste ich es nicht, hatte nur eine Ahnung, ein Flimmern am Rande meiner Wahrnehmung, das immer dann in der Dunkelheit verschwand, wenn ich es zu genau betrachten wollte, das aber einen Schatten auf meiner Netzhaut hinterließ. Ein Eindruck, der mir keine Ruhe ließ. Und da stand ich einfach auf und beendete das Warten.

Aufs Image scheißen

Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich einige Jahre später mit verbundenen Augen durch den Stadtgarten laufen, zulassen würde, dass ein anderer Mensch mich an die Hand nimmt und führt, ja sogar mit mir rennt, ich wäre vor Angst implodiert. Dennoch ist es keine drei Tage her, dass ich genau das gemacht und wirklich genossen habe. Was für ein Gefühlskonglomerat: die Luft auf meiner Haut, die Rinde eines Baumes, das Gras unter meinen Füßen, die Geräusche um mich herum, die weiche Hand meiner Mitschülerin – absolut unbezahlbar!

Wir alle hetzen durch die Welt, meinen sie zu kennen und nehmen doch das meiste gar nicht wahr. Wir basteln uns ein Image, leben nach diesem Bild, belügen Andere und auch uns selber, bis wir nicht mehr wissen, dass es eine Lüge ist. Die Erfahrungen, die wir sammeln, sind wichtiger als die Dinge, die wir besitzen. Ich weiß, theoretisch hat sich das schon rumgesprochen, doch es wirklich meinen und nicht nur sagen, ist schwerer als wir denken.

Tapezieren leicht gemacht

Jeder Mensch tapeziert sich seinen Realitätstunnel selber und auch nur so gut, wie er es gelernt hat. Immer öfter habe ich den Gedanken, dass alle Menschen eine Schauspielausbildung machen sollten. Ehrlich! Ausnahmslos jeder auf der Welt, auch die unter euch, die gar nicht auf die Bühne, sondern Zahlen jonglieren wollen. Tut es, sucht euch einen Schauspielkurs!
Man sagt: „Schauspielerei ist ein Handwerk“.  Doch du bekommst viel mehr als das Handwerkszeug in Rollen zu schlüpfen. Du bekommst für deinen Realitätstunnel guten Kleister, einen prima Quast und immer wieder neue Tapeten.

von Ines Langel

Titelbild: dominik martin / unsplash.com

Ines Langel , Dipl.Bibliothekarin. Studierte an der Fachhochschule Köln Informationswissenschaften, Fachrichtung Bibliothek. An der Theaterakademie Köln macht sie derzeit eine Weiterbildung mit Schwerpunkt auf Sprechen. Sie ist verheiratet und Autorin zweier Jugendbüchern.

Anne und die Horde: ISBN-13: 978-1533388261
Tirnanog: ISBN-13: 978-3934555518
Wenn Sonntag ist…: ISBN-13: 978-3785581759 (Anthologie / enthaltener Text: „Schöne Bescherung“)