Ein Teil des dritten Semesters der Theaterakademie Köln besucht auf einer Recherchereise für ein Szenenstudium die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Osthofen in Rheinland-Pfalz. Warum sie dort waren und was der Besuch bewirkt hat, erzählen sie hier:
„Ihre Rechte wurden mit Füßen getreten, so wie ihre Körper.“
Diese Klasse arbeitet im Szenenstudium im Wintersemester 2018/19 an dem Stück „Die Kannibalen“ des Theaterautors und Regisseurs George Tabori. Dieses Stück dreht sich um die Häftlinge einer Baracke im Vernichtungslager Auschwitz. Einer der Insassen, Puffi, versucht unentdeckt einen Kanten Brot zu essen. Als er auffliegt, stürzen sich seine Mitgefangenen auf ihn. Sie schlagen ihn aus Gier und mehr aus Versehen tot. Im Folgenden entwickelt sich eine Kontroverse darüber, ob man den Toten nicht verspeisen könne. Diese abgründige und unvorstellbar grausame Situation wird von Tabori durch bizarre und groteske Szenen auf ein komödiantisches Format hochgefahren. Doch der Humor bleibt sehr schnell im Halse stecken. Hier tut sich ein tiefer Abgrund der menschlichen Seele auf. Dies ist für ein Szenenstudium im zweiten Ausbildungsjahr keine kleine Herausforderung.
Szenenstudium als Herzstück der Ausbildung
Die Schüler*innen der Theaterakademie Köln haben zwischen dem dritten und sechsten Semester insgesamt 8 Szenenstudien. Diese haben verschiedene Schwerpunkte und jedes Seminar wird von anderen Dozent*innen gegeben. Im dritten Semester liegen die didaktischen Schwerpunkte auf psychologischem, naturalistischem und physischem Spiel. Die Leitung des Szenenstudiums „Die Kannibalen“ hat TAK-Schulleiter Robert Christott. Er hatte das Stück ausgewählt und die Rollen zugeteilt. Im Zentrum seines Unterrichtes steht die Darstellung menschlicher Zustände und ihrer Veränderungen. Es geht darum, sie nonverbal über den Körper sichtbar zu machen. Dabei tritt der Text selbst teilweise in den Hintergrund. Diese Arbeit basiert auf den Schauspieltheorien von Jacques Lecoq, Michael Tschechow und Sanford Meisner.
Spezialfall Szenenstudium „Die Kannibalen“
Im Original der „Kannibalen“ stehen 14 Männer auf der Bühne. Dieses Szenenstudium des dritten Semesters der Theaterakademie Köln absolvieren 6 Frauen und 3 Männer. Das stellt eine Lerngruppe zwar vor Herausforderungen. Jedoch unterscheidet sich die Arbeit hier vor der an einem Theater. Dazu Robert Christott:
„Ein Szenenstudium ist keine Inszenierung. Denn wir erarbeiten uns Handwerk mit dem Spielmaterial und lernen, die Schauspielgrundlagen anzuwenden. Dabei ist es aber dennoch wichtig, das Ausgangsmaterial nicht bloß als Steinbruch für szenische Ideen zu gebrauchen. Vielmehr muss man sich den Texten mit einer professionellen Haltung und künstlerischem Gestaltungswillen nähern. Das Stück DIE KANNIBALEN bietet einen gut geschriebenen und sehr dichten Text. Hier können sich die Schüler*innen abarbeiten in Szenen- und Rollenfindung.“
Der Versuch einer Annäherung
Viel Recherche in den Geschichtsbüchern, die Berichte Überlebender und Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus waren die Folge. Denn wir wollten uns wenigstens in Ansätzen vorstellen können, wie so ein Konzentrationslager funktionierte. Daher wurde eine Exkursion geplant. Die Wahl fiel auf die Gedänkstätte des ehemaligen KZ Osthofen. Das liegt in der Nähe von Worms. Das Lager war ein Gefängnis für politisch Verfolgte und diente nicht als Vernichtungslager. Dennoch sind die Umstände, unter denen dort schon einen Monat nach der Machtergreifung durch Adolf Hitler Menschen eingesperrt, mißhandelt und gefoltert wurden unfassbar grausam. Um Eindrücke für die Arbeit des Szenenstudiums zu sammeln, schien der Besuch der Gedenkstätte eines ehemaligen Konzentrationslagers sinnvoll, dessen Anlage fast vollständig erhalten wurde. Denn es war uns wichtig, Räume betreten zu können, durch Tore zu treten und Plätze zu beschreiten, um den Sinnen einen konkreten Eindruck zu hinterlassen.
Die politische Dimension des Szenenstudiums
Theaterakademie Schulleiter Robert Christott: „Der Stoff der systematischen Vernichtung in Auschwitz bietet einen Hintergrund, der für uns heute schwer zu ermessen und gar nicht wirklich vorstellbar ist. Also muss ich als Schauspieler meine Phantasie anreichern, um so etwas spielen zu können. Das hat zwangsläufig zur Folge, dass ich mein Leben dazu in Beziehung setze und auch über aktuelle politische und gesellschaftliche Strömungen nachdenke. Demnach muss ich Position beziehen und komme nicht umhin, den aktuellen Rechtsruck weiter zu denken. Wir sind nach meinem Empfinden sicherlich weit weg von so etwas unfassbar bösem wie Auschwitz, Treblinka, Buchenwald etc. Aber Parallelen zum Anfang all dessen durch eine Verschärfung der politischen Großwetterlage können wir heute beobachten. Hier gilt es, sich zu sensibilisieren und damit auch in einem Szenenstudium die schauspielerische Aufgabe der Studierenden um einen gesellschaftlichen Ansatz zu erweitern.“
Aus „Die Kannibalen“
KLAUB tritt währenddessen nach vorn, verbeugt sich vor dem Publikum Als angehender
Mediziner erklärte er ihnen, dass sie keinerlei üble Folgen zu befürchten brauchten, wie z.B.
Verstopfung, Gastritis oder Brechdurchfall – und bei richtiger Zubereitung, geschmort, gekocht
oder auch gebraten, und gut gekaut – das versteht sich von selbst, jeder Bissen muss
ordentlich gekaut werden, am besten sechs oder sieben Mal – müsste der Geschmack
angenehm und der Nährwert hoch sein. Schließlich und endlich sei der Unterschied
geringfügig.
ONKEL Was macht ihr da, wenn ich fragen darf?
KLAUB Wir machen Feuer.© Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH
Wir haben die Klasse gebeten, Ihre Eindrücke aufzuschreiben:
Der Ausflug war für mich eine Zeitreise in die Anfänge des dritten Reichs. Ein komisches Gefühl kam in mir auf als ich das Gelände des KZ‘s betreten habe. Hier wurden die ersten politischen Gefangenen eingesperrt, misshandelt und gedemütigt. Ich habe mich wie ein Häftling gefühlt. Allein der Gedanke, auf dem Boden zu gehen auf dem früher die zu unrecht gefangen Menschen gingen, verpasste mir eine Gänsehaut. Durch die Führung haben sich so viele positive wie auch negative Emotionen in mir aufgestaut. Viele Fragen kamen auf: Wie konnte sowas derart grausames nur geschehen? Wäre ich aus der Sicht eines Häftlings stark genug das durchzustehen oder als SS-Wache bereit (aus freiem Willen) jemand unschuldigen zu misshandeln?
Aus diesem Ausflug konnte ich psychisch wie auch physisch sehr viel mitnehmen. Denn es hat mir nochmal klar gemacht, wie abscheulich diese Zeit war. Das war für mich eine unglaubliche Erfahrung, im wahrsten Sinne des Wortes.
-Michael Klass
Orange-brauner Backstein erschafft ein Gemälde ähnliches Fabrikgelände. Die warm-strahlende Sonne
spiegelt sich in den klaren gestrigen Fensterscheiben wieder. Der seichte, kühle Herbstwind weht verspielt
durch unsere Haare und lässt uns eine anfängliche Winterkälte spüren. Vögel zwitschern und lassen sich von
dem Hauch des Wetters tragen. Die Menschen fahren auf Fahrrädern in Wolle gehüllt durch das süße
Städtchen mit unscheinbar dinglicher Historie.
Irgendwie grotesk, nicht wahr?
Osthofen, 1933 ortskundig für das hier befindliche Konzentrationslager. In aller Munde war dies jedoch eine
„Erziehungs- und Besserungsanstalt“ für politische Gegner, die sich offenkundig gegen den anfänglichen
Nationalsozialismus stellten.
Die Schönheit der Architektur und die zunächst friedliche Stimmung trügt.
Der tiefschwarze Unterton von Gewalt, Ungerechtigkeit, Hass, Rassismus, Desavouierung – ein gängiges,
jedoch verheimlichtes Bild eines Gefängnisses zur damaligen Zeit.
Für mich ein unvorstellbarer Gedanke, der in meinem Kopf zu wuchern beginnt, der mich schlicht erhärten
lässt. Für mich ein unvorstellbares Gefühl von Schmerz und Leid, was mein junges Herz schwer schlagen
lässt.
“When you’re young and healthy you can recover quickly from a defeat. But betrayal is different – it
paralyzes you.”
Anna Seghers, Transit
– Luisa Kammrad
„Betrug, der Mensch der seine eigene Rasse verrät, verrät auch sich selbst. Ein Fehler, der viele unschuldige
Leben kostete und uns nicht noch einmal passieren darf.“
Zu Beginn wusste ich nicht wirklich was mich erwartet. Recht unvorbereitet wollte ich das Ganze direkt im Moment aufnehmen können und meine ersten Eindrücke vor Ort sammeln und sie mir nicht schon ‚vor denken‘ .
Die Gedenkstätte war kleiner als ich gedacht hatte. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dadurch zu wenig zu bekommen. Als wir in die Halle gegangen sind, in der die Gefangenen leben mussten, kamen die Bilder ohne das ich mich anstrengen musste. Über 200 Menschen wie Tiere zusammen gepfercht. In einer kalten, nassen Halle die viel zu klein für sie alle war. Einer nach dem anderen wird krank. Sie wurden misshandelt und mussten unter menschenunwürdigen Bedingungen ‚arbeiten‘.
Diese Vorstellung hat mir alleine für unsere Umgebung und Situation im Stück schon viel gegeben. Denn ich bin der Meinung, das es, gerade wenn man ein Stück mit so einer schweren Materie spielt, sehr wichtig ist sich ein genaues Bild von allem zu machen. Auch wenn es unschöne Bilder sind die entstehen, sollte man sich damit auseinander setzen. Damit man die Situation, in der die Charaktere stecken, begreifen kann. Mir hat der Ausflug sehr viel in dieser Hinsicht gegeben und ich bin sehr froh, das wir ihn von der Schule aus ermöglicht bekommen haben.
– Carina Mischke
Osthofen.
Von außen sieht alles friedlich aus. Die Stimmung wahrscheinlich nicht anders als gestern und die Milch schmeckt auch morgen noch wie heute.
Doch mittendrin, hier vor 85 Jahren wurden Menschen gegen ihren Willen und ohne etwas verbrochen zu haben, eingesperrt, misshandelt, gedemütigt und ausgehungert.
Ihre Rechte wurden mit Füßen getreten, so wie ihre Körper.
Auf engstem Raum lebten die ca. 3000 Häftlinge, des Konzentrationslagers hier in Osthofen.
Hier zu stehen wo sie damals saßen, lebten und aßen ist überwältigend.
Zu lesen, aus ihrem Leben, als wäre das alles noch so nah. Als würden sie dir ihre Geschichte ins Ohr flüstern.
Wer sich hinten anstellt bekommt den letzten Rest der Suppe die zu 80% doch eh nur aus Wasser besteht und wo nie einer einen Pfennig geben würde für die Zutaten. Und wenn dann jemand fastet? Seinem Glauben nachgeht? Dann wird dafür gesorgt, dass ein gutes, teures Stück Schweinefleisch aufgetrieben wird um die Demütigung noch unterirdischer und grauenvoller zu gestalten.
Es war nicht nur Stückrecherche, sondern auch eine Recherche für mich selbst.
– Sima Laux
„Erinnerung braucht Orte, die das Verstehen ermöglichen, die über emotionale Zuwendung hinaus rationale Aneignung, Wissen und verstehen ermöglichen. KZ-Gedenkstätten wie Osthofen sind Lernorte. Sie sind ein kostbares Gut. Sie sind authentisch und nicht ersetzbar durch Monumente oder Museen. Als lebendiger Ort der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte sind diese Orte unverzichtbar“. (W. Benz, Auschwitz begann in Osthofen, 1998)
Die Fotos wurden von Robert Christott vor Ort mit Genehmigung der Museumsleitung gemacht.