Allgemein

Mit dem dicken Mädchen hat niemand Mitleid

An einem Samstagabend im Sommer saß ich mit meiner lieben Freundin Sarah und einer Bekannten, die ich lange nicht gesehen hatte, auf der Bank unter einem großen Baum vor dem Hänneschen-Theater. Es wehte ein laues Lüftchen, an die Karten war ich ganz unverhofft gekommen und mein Tag war bisher wunderbar verlaufen.

Ich trug mein neues zitronengelbes Kleid, eine Farbe, die gut mit meinem roten Haar korrespondiert – ich fühlte mich wohl darin und ja, sogar schön. „Wie herrlich das Leben doch sein kann“, dachte ich, wippte mit meinem rechten Fuß und blickte zwischen den Ästen vorbei in den immer noch blauen Himmel.  Sarah neben mir stand auf: „Ich gehe kurz auf Toilette, ich stelle mein Glas hier hin.“„Kein Problem, ich sehe zu, dass ich es nicht mit meinem Po umstoße.“

Wir lachten uns kurz an und Sarah verschwand im Theater. Dann der Stoß in meine Magengrube, versetzt durch eine Frau, die ich ewig nicht gesehen hatte, mit der ich noch nie vertraut war: „Ja, du hast mich echt überrascht, ich kenne dich ja noch anders, kaum zu glauben, dass du so fett geworden bist.“
BÄMS!

Und schon war es wieder da, das schlechte Gefühl, dass mich viele Jahre meines Lebens von einer Diät in die andere und sogar fast in die Magersucht getrieben hat. Fassungslos schaue ich in das debil lächelnde Gesicht dieser Frau und beschließe in diesem Moment, dass ich sie niemals wieder sehen werde. Sie erwartet tatsächlich eine Antwort, also sage ich:
„Während ich versucht habe am Leben zu bleiben, hatte ich keine Zeit mehr auf meine Figur zu achten. Ich denke auch nicht mehr in solchen Kategorien, doch Dummheit stößt mich ab.“ Sie schaute betreten zu Boden – immerhin.

Früher wäre der Abend an diesem Punkt für mich gelaufen gewesen, ich hätte mich zu schlecht gefühlt, um das Stück genießen zu können. Wahrscheinlich hätte ich mich irgendwo verkrochen, um zu heulen. Das war vor meiner Depression und Fotos aus dieser Zeit zeigen ein ganz normales Mädchen, hübsch sogar. Doch wie jedes normale Mädchen habe auch ich immer gehört und vor allem gesehen, wie Frauen auszusehen haben und wie eben nicht. Die Medien zeigen uns ein Bild von Weiblichkeit, das nicht der Wahrheit entspricht. Sie reden uns Schuldkomplexe ein, denn wir sollen uns schlecht fühlen, damit sie Cremes, Tinkturen und vor allem Diätpillen an uns verkaufen können. Und obwohl ich ausgestiegen bin, beschlossen habe mein Leben zu genießen, mich zu umarmen und zu lieben wie ich bin, trifft es mich immer noch.

Bodyshaming - Ein Artikel von Ines Langel

Bild: kevin jesus horacio /unsplash

Wieso also Schauspielerei, ein Beruf, der fast ausschließlich daraus besteht, angesehen und bewertet zu werden? Die Prä-Depressive Ines dachte tatsächlich, dass es nicht geht, man außergewöhnlich schön und makellos sein muss, um Schauspieler zu werden. Verzeihung – Schauspielerin. Denn für Männer galten immer schon andere Regeln, nicht wahr?
„Was für ein Schwachsinn!“, will ich meinem jüngeren „Ich“ zurufen und: „Hör auf dich zu verstecken!“ Wie soll sich denn etwas ändern, wenn Menschen mit einer anderen Körperform oder unreiner Haut im Nichts verschwinden?

Das Bild, das Menschen von der Schauspielerei haben ist oberflächlich, sehr viel oberflächlicher als der Beruf an sich. Klar! Denken doch alle gleich an Hollywood. Solltest du auch zu denen gehören, die ihr Wissen aus dem Film- und Fernsehen beziehen empfehle ich dir: „Geh mal ins Theater! Hör ein literarisches Hörspiel im Radio! Schau über deinen Tellerrand.“ Und wenn du nun sagst: „Wie soll ich das machen? Ich habe Kinder und keine Betreuung“, dann sage ich: „Prima! Nimm sie mit ins Kindertheater. Ins Casamax, zum Beispiel.“

Mein Leben lang wollte ich Geschichten erzählen, gute Geschichten, nicht die immer gleichen abgedroschenen Storys mit stereotypen Personal. Ich will es echt! Echte Menschen, echte Gefühle und auch der echte Makel und der Wahnsinn, die Schadstoffe, die in uns allen Stecken. Das Theater bietet den kreativen Raum, in dem all das stattfinden kann und noch viel mehr. Ich will diesen Raum mitgestalten, will mit Kreativität das Bild verändern, das wir von uns und anderen haben. Ein riesen Ziel, ich weiß, doch es ist an der Zeit!

Im letzten Semester bat die großartige Doris uns darum, unseren Antrieb mitzubringen. „Woraus besteht die Triebfeder deines Schaffens?“ Hast du dich das schon mal gefragt? Ich habe mir diese Frage so beantwortet:

Du darfst dich nicht  von dir selber ablenken, du  musst dich aushalten, allein.
Es ist schwer sich selber ertragen zu können. Das kann man nicht einfach so, das muss man üben. Du musst üben dich nicht vor dir selbst weg zu ducken, dich nicht vor dir selbst zu verstecken.
Du musst stehen bleiben und dich betrachten. Dir selbst auf die Haut schauen, dir selbst in den Mund schauen, dir selbst in die Ohren schauen, in das Loch deiner Seele blicken. Du musst furchtlos sein und ohne Skrupel, doch mit Respekt vor der eignen Bedürftigkeit.

Du musst dich selbst wärmen, dich selbst tragen, dich selbst schützen, dich selbst fühlen, dich selbst hören, dich selbst mögen. Ja – du musst dich lieben. Das kann man nicht einfach so, das muss man üben!“

von Ines Langel

Titelbild: eye for ebony / unsplash

Ines Langel , Dipl.Bibliothekarin. Studierte an der Fachhochschule Köln Informationswissenschaften, Fachrichtung Bibliothek. An der Theaterakademie Köln macht sie derzeit eine Weiterbildung mit Schwerpunkt auf Sprechen. Sie ist verheiratet und Autorin zweier Jugendbüchern.

Anne und die Horde: ISBN-13: 978-1533388261
Tirnanog: ISBN-13: 978-3934555518
Wenn Sonntag ist…: ISBN-13: 978-3785581759 (Anthologie / enthaltener Text: „Schöne Bescherung“)